Wenn eine Familie aus mehreren Generationen besteht, können unterschiedliche Interessen und Bedürfnisse zu innerfamiliären Spannungen führen. Auch dann, wenn alle Familienmitglieder über ihre vollständige Souveränität verfügen. Üblicherweise können sich die einzelnen Personen in ihrem Alltag zurückziehen und der räumliche Abstand kann helfen, emotional wieder gut zurechtzukommen.
Sobald die älteste Generation jedoch hilfsbedürftig wird, verändert sich das Gleichgewicht in der Familie. Schlagartig bekommt die mittlere Generation eine neue Verantwortung, auf die sie sich meinst nicht vorbereitet fühlt. Was ist nun zu tun? Es wird deutlich, dass die Eltern oder Schwiegereltern nicht mehr eigenständig ihr Leben organisieren können. Krankheiten werden zur Belastung, Arztbesuche nehmen zu, die Versorgung in der eigenen Wohnung wird immer anstrengender.
Es ist wichtig, dass sich die mittlere Generation mit den bedürftigen älteren Familienmitgliedern darüber austauscht, wie genau es weiter gehen kann. Oft kommt es in diesen Zeiten zu Rückschauen auf vergangene Zeiten. Vielleicht gab es Konflikte, die man sich für die Zukunft nicht mehr wünscht.
Andererseits kann es eine wunderbare Zeit geben, in der die Eltern durch Zeit und Zuwendung spüren, wie sehr man sie schätzt und wie dankbar man ihnen ist. Für Ihre Begleitung auf dem Weg durch das Leben. Durch Kindheit, Pubertät, Studium etc.
Das „Mehr-Generationen-Wohnen“ innerhalb einer Familie, sprich Großfamilie, ist eine Option, die in unserer Gesellschaft nicht mehr oft vertreten ist. Das ist schade, denn es kann für alle eine bereichernde und stärkende Erfahrung werden.
Von einer solch positiven Erfahrung möchte ich gern berichten:
Nach meiner Geburt bin ich für einige Wochen bei meiner Großmutter versorgt worden, da meine Mutter erkrankt war. Für meine Großmutter war es selbstverständlich, mich aufzunehmen und sich auch später sehr viel Zeit für ihre Enkelkinder zu nehmen und Geduld mit ihnen zu haben. Es waren für uns alle spannende Momente, wenn sie von ihrer Kindheit, den Kriegserlebnissen, der Vertreibung und ihrer Familie erzählte – eine Zeit, die uns fremd war.
Nach meiner eigenen Schulzeit, Studium, Eheschließung und den ersten Kindern kam meine Großmutter in ein Alter, in dem sie vermehrt meinen Zuspruch und meine Hilfe benötigte. Ich übernahm ihre Einkäufe, ging mit ihr zum Arzt und wurde ihr energisches Sprachrohr, als niemand sich sonst niemand der alten Frau annehmen wollte. Meine Familie und ich wollten ihr so lange wie möglich die Eigenständigkeit erhalten.
Nach einer dramatischen Blinddarmoperation im Alter von 92 Jahren empfahlen die Ärzte der Familie, sie nicht mehr allein leben zu lassen. Für mich war, nach kurzer Abstimmung mit meinem Mann klar, dass meine Großmutter jetzt zu uns kommen müsse, damit wir für sie da sein könnten.
In unserem Haus bewohnte sie zwei Zimmer und ein Bad, was bedeutete, dass sie sich zurückziehen konnte, wann es für sie wichtig war. Unsere Kinder waren damals drei und ein Jahr alt. Wir lebten uns gut zusammen. Kleine Hilfen in der Küche konnten in der ersten Zeit von der Großmutter übernommen werden.
Nach ein paar Jahren wurden im Abstand von zwei Jahren unsere zwei Töchter geboren, die unser Leben bereicherten. Meine Großmutter freute sich, obwohl sie mittlerweile bereits 98 Jahre alt, leicht altersdement, inkontinent und sehr auf Hilfe angewiesen war. Trotzdem meinte sie: „Ich kann ja gar nicht sterben; du kriegst immer wieder Kinder – das ist so schön“.
Nach einer Gallensteinoperation wollte sie nicht mehr leben, verweigerte das Essen und magerte zusehends ab. Nach drei Monaten begann der Sterbeprozess. Mein ältester 9-ähriger Sohn sagte damals: „Mama, geh doch mal mit Papa spazieren. Wenn Oma jetzt sterben sollte, kann ich doch auch ihre Hand halten.“ Sie starb zu Hause und wir nahmen uns einen Tag Zeit, uns in unserem Haus von ihr verabschieden zu können.
Das haben wir als Familie von dieser Erfahrung gelernt: Aufeinander zu achten, respektvoll mit der älteren Frau umzugehen, uns in Geduld zu üben und aufeinander verlassen zu können.
Allein sind wir nichts, nur in Verbindung mit geliebten Menschen haben wir die Möglichkeit, unsere Kraft, Talente, Stärken und auch Schwächen zu entdecken und zu erfahren, dass wir geliebt und getragen sind.
Im mittleren Lebensalter ist man erfolgreich, beweglich in vielerlei Hinsicht, unabhängig und voller Tatkraft. Aber schnell vergessen wir, dass es nicht immer so war und ignorieren, dass es auch wieder die Zeit geben wird, wo wir auf die Liebe, Hingabe und Fürsorge angewiesen sein werden. Und diese wird nirgendwo schöner als bei geliebten Menschen sein.
Dies sollte ein Plädoyer sein, hinzuschauen, zuzupacken, wenn meine Hilfe gebraucht wird – in Freude und Liebe.
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